Nachrufe aus der Zeit der Weimarer Republik
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1919
Gedenkblätter. XIX:
Robert Ross. LE, Bd. 21, Nr. 13 (1. April 1919), 779-785.
Oscar Wildes Freund
und Nachlaßverwalter (gest. 05.10.18). – „Nein, Robbie, du sollst nicht
ungerühmt zu den Schatten hinabgehn. Dem Lebenden ward ein Denkmal,
unvergänglich von Dichtershand; dem Toten soll von einem dankbaren Bewunderer
ein Kranz aus den Immortellen seiner Vorzüge geflochten werden. Er trifft nicht
zu spät ein… – Als ich auf der Straße die Todesnachricht in der Zeitung las
(ganz unten in einer Ecke, drei Zeilen), da versank für mich im Augenblick der
Weltkrieg: alles blutige Geschehen, alle sinnlose Saat des Hasses. […] Und der
Gedanke erfüllte mich: für diesen Engländer, mit dem du ein Jahrzehnt in regem
Briefwechsel standest, den du fast jedes Jahr etliche Wochen sahst und
wahrscheinlich besser kanntest als irgendein Deutscher – für diesen Ross
müßtest du zeugen, daß es neben allem, was in England zu seinem Lobe erklungen
ist, bestehn könnte. – […] Ross […] war Katholik, überzeugter Katholik bei
aller Neigung zum Freidenkertum. […] In Dresden erzählte er mir einmal, er gehe
jedes Jahr am Ostersonntag in die Kirche, wenigstens an diesem Tage; das sei
ihm Bedürfnis. […] – Den Bilderhändler lernte ich im Jahre 1904 kennen. […] Als
wir uns Mitte Juni 1914 in London voneinander trennten, dachte wohl keiner von
uns beiden, daß Englands und Deutschlands Schicksalsstunde so bald schlagen
werde, daß Umnachtung und ewige Nacht drohten. – Ich weiß nicht, wie Robert
Ross während des Krieges dachte, ob er am Ende nicht auch von der allgemeinen
Hirngrippe heimgesucht wurde. Es ist schwer anzunehmen. Denn ich weiß, wie
Robert Ross vor dem Kriege dachte. – Als er die große, von ihm mit unendlicher
Mühe herausgegebene Wilde-Gesamtausgabe glücklich unter Dach und Fach gebracht hatte,
wurde ihm zu Ehren, am 1. Dezember 1908, im Ritz-Hotel in London ein
Bankett veranstaltet; dabei hielt er vor zweihundert Teilnehmern (darunter
einflußreichen Politikern und den Oberpriestern der Kunst) eine Rede, deren
Kernstück hier zum ersten Male aus dem Manuskript wiedergegeben sei: ‚… Und
jetzt möchte ich einige möglicherweise falsche Eindrücke bei Ihnen beseitigen.
Erstens: daß ich für die Bezahlung von Wildes Schulden verantwortlich sei.
Deutschland hat dies zuwege gebracht; im großen und ganzen wurden sie aus den
Einnahmen der deutschen Aufführungen seiner Stücke bezahlt, hauptsächlich der Salome,
lange bevor, wie ich hinzufügen möchte, Dr. Strauß die Worte in Musik
gesetzt hat. Und Dr. Max Meyerfeld in Berlin war es, der mich, wie ich
schon an anderer Stelle erklärt habe, überredete, De Profundis zu
veröffentlichen, so daß ich der Wahrheit gemäß sagen darf: Oscar Wildes
auferstandener Ruhm ist „made in Germany“. – Ich muß gestehn – und wer mich als
den Förderer einer unbeliebten, doch nie verlorenen Sache kennt, wird nicht
überrascht sein – ich muß gestehn, daß ich ein Deutschenfreund bin. Sie dürfen
nicht gekränkt sein, denn Sie werden sich daran erinnern: auch Shakespeares
Ruhm wurde „made in Germany“. – Ich bekenne, daß ich das Land liebe, dessen
Literatur ich bloß in Übersetzungen würdigen kann; wie vieler anderer, die in
Frankreich geboren sind, ist mein Herz auf dem andern Ufer des Rheins. Und doch
vermute ich, daß die meisten von uns, zeitweilig alle, deutschfreundlich
gesinnt sind, wenn wir des großen Volkes gedenken, das Europa einen Dürer,
Holbein, Goethe, Heine, Schopenhauer, Nietzsche, Gerhart Hauptmann und das
moderne Drama geschenkt hat, das die lebendigste dramatische Kraft in Europa
geworden ist; deshalb müssen Sie mich entschuldigen, denn dieses Volk war es
auch, das Oscar Wilde – nicht zu einem europäischen Namen, sondern zu einem
englischen Namen gemacht hat, der in drei Erdteilen berühmt ist. […]’ – Schon
diese Stelle zum Preise Deutschlands – und dabei sind die Musiker vergessen,
unser Sternenglanz! – rechtfertigt es, daß hier, in einer literarischen
Zeitschrift, von Robert Ross die Rede ist. […] – Als Freund und
Nachlaßverwalter Oscar Wildes wird Robert Ross fortleben. […] In den letzten
Jahren, als er das ihm anvertraute Schiff schon im Hafen sicher geborgen wähnen durfte, wurde es noch einmal auf das hohe Meer
hinausgestoßen. Lord Alfred Douglas, der sich durch die Veröffentlichung der an
ihn gerichteten, ihn richtenden Wilde’schen Beichte in seiner Eitelkeit tödlich
beleidigt fühlte, schreckte mit wahrer Desperado-Tollheit und teuflischer
Bosheit nicht davor zurück, widerliche Prozesse heraufzubeschwören. Indem er
den nachträglich kanonisierten Oscar Wilde an den Pranger stellte, glaubte er,
Robert Ross in seiner menschlichen Ehre zu vernichten. Aller Schmutz aus den
früheren Gerichtsverhandlungen wurde wieder angefahren. Es war ein Kampf bis
aufs Messer. Ich weiß nicht, ob und wie er entschieden wurde; ich weiß nur, auf
welcher Seite die Sympathien aller anständigen Engländer waren. […] – Und nun,
nachdem ich den Menschen Robert Ross zu schildern versucht habe, will ich nicht
länger zögern, das kurze Gedicht mitzuteilen, das mir die Nachricht von seinem
Tode entlockt hat: Robbie. | Und alle Heiligen kamen ihm / in langem
Zug entgegen. / Er wußte nicht, wie ihm geschah, / und senkte scheu den Blick.
/ ‚Tritt ein! Du hast den Himmel dir / auf Erden reich verdient. / Wer so dem
Freund in seiner schwersten Stunde beistand, / im Leben wie im Tode ihn mit
Liebe hegte; / wer unbeirrt der Stimme seines Herzens folgte / und durch die
Wut der Welt mit Kinderaugen schritt, / hat mehr getan als mancher unter uns. /
Was zauderst du? Tritt ein! Auch hier gilt Treue.’ / Und Robbie sprach, von
Purpur überströmt: / ‚Warum hat Gott den eignen Sohn / in seiner höchsten Not
verlassen?’“
Gustav Landauer. Ernte.
Jahrbuch der Halbmonatsschrift DAS LITERARISCHE ECHO, ed. Ernst Heilborn,
Bd. 1, Berlin 1919, 45-51.
Schriftsteller, Übersetzer und Anarchist (am 02.05.19 im
Gefängnis ermordet). – „Wenn er mir so gegenübersaß, oft eine Zigarette an der
andern ansteckend, und in seiner gescheiten, dem Esprit abholden Art mit mir
plauderte, hatte ich die Empfindung: diesem grundgütigen, von einem brennenden
Gerechtigkeitsgefühl erfüllten Menschen ist nichts Menschliches fremd; der
kennt die Höhen und Tiefen; dem haben die Allgemeinheiten und Gemeinheiten des
Lebens nicht mehr als die Sohlen zu beschmutzen vermocht. Ich hätte ihn nie
eines unschönen Gedankens für fähig gehalten, nie einer Tat, deren er sich zu schämen
brauchte. Beginge er je eine Sünde wider die Gesellschaft, so wäre er des
Glaubens gewesen, durch diese Sünde die wahre Vollkommenheit seiner Seele zu
erreichen. Darin einem Sokrates ähnlich. Bisweilen schien ihn ein sanfter Glanz
zu umschweben wie den Pilger Luka in Gorkis Nachtasyl,
der jeden, mit dem er in Berührung kommt, irgendwie besser zurückläßt oder doch
zu innerer Einkehr, zur Selbsterkenntnis zwingt. Gustav Landauer besaß
entschieden russische Wesenszüge, wie sie in letzter Prägung bei Dostojewski
begegnen. – Meist unterhielten wir uns über literarische Dinge. Ich las ihm
unveröffentlichte Arbeiten vor, um sein Urteil zu erfahren; denn vermöge seiner
umfassenden Bildung war er wie wenige befähigt, scharf zu sehn. Das ist ja –
der Name sagt es – des Kritikers Natur. Als solcher ist er einmal für mich oder
vielmehr für eine von mir übertragene, im Deutschen Theater durchgefallene
Dichtung öffentlich eingetreten. ‚Ich halte Wildes Florentinische Tragödie’ – schrieb er mir nach der ersten Aufführung
ganz spontan – ‚für ein kleines Meisterstück, wobei sich allerdings über den
Schluß allerlei sagen läßt. Die Kritik, die ja in Berlin nur das Mundstück des
dummen Publikums ist, hat natürlich völlig versagt.’ Heut urteilt die Welt wie
Landauer. Übrigens fing er schon damals an, vom Blendwerk Reinhardtscher Regie,
gleich den besseren Mitteleuropäern, abzurücken. – […] Als ich wieder von ihm
hörte, zeigte er den Tod seiner Frau [Hedwig Lachmann, gest. 21.02.18] an.
Nachher schickte er mir die für einen engen Freundeskreis gedruckten
Aufzeichnungen Wie Hedwig Lachmann starb.
Ich las das dünne Heft mit wärmstem Anteil; als ich es gelesen hatte, konnte
ich das Gefühl nicht los werden, daß ein hoher Geist aus den Angeln gehoben
sei. […] Vielleicht wurde Gustav Landauer durch diesen Keulenschlag des
Schicksals aus seiner Bahn geworfen. ‚Who knows on what path he shall meet his fate?’ Ich wunderte
mich, daß er den diskreditierten Düsseldorfer Dramaturgenposten angenommen
hatte. Ich wunderte mich nicht, daß er, von Eisners Irrlicht gelockt, plötzlich
im Strudel des Münchner Putsches auftauchte. Was auch die Zeitungen über ihn
zusammengeschwatzt haben: wer ihn kannte, wird bis zuletzt den Glauben an
diesen aufrichtigen, edlen, freien Menschen bewahrt haben, den Glauben, daß er
keiner häßlichen Handlung, keiner unschönen Regung fähig war. Wie wenigen läßt
sich das nachrühmen? – Der im Massengrab modernde Gustav Landauer hat der
Menschheit Wertvolleres geleistet als der bei lebendigem Leibe verfaulte
Woodrow Wilson.“
1920
August Stein. NZZ, 18. Oktober 1920, Zweites
Morgenblatt, Nr. 1710.
Politischer Korrespondent der Frankfurter Zeitung in Berlin von 1883 bis kurz vor seinem Tod
(gest. 13.10.20). [Auszugsweise abgedruckt im LE, Bd. 23, Nr. 5 (01.12.20), 292.] – „Unter dem Strich
tauchte August Stein leider nur vereinzelt und zuletzt immer spärlicher auf.
Und doch waren seine Feuilletons Leckerbissen […]. Mir sind die Schilderungen,
die er als ‚Irenäus’ von Berliner Gesellschaftsereignissen, besonders von dem
alljährlich im Opernhaus veranstalteten Subskriptionsball entwarf, in dankbarer
Erinnerung geblieben. […] Er kannte Gott und die Welt, also hier: den Hof und
die bürgerlichen Kreise; er kannte die Stelle, wo jeder sterblich war. Es
reizte ihn bisweilen, sie mit feiner Ironie zu kitzeln. Nicht, als ob er
Indiskretionen begangen hätte; dazu schätzte er die vita privata zu hoch. Doch es gab für die Kenner reizvolle
Andeutungen. Ich könnte mir vorstellen, daß ein rühriger Verleger diese
Gesellschaftsbilder August Steins nach Jahr und Tag ausgräbt und sie,
vorausgesetzt, daß ihre Zahl stattlich genug ist, zu einem unterhaltsamen
Bändchen vereinigt. – Der Schriftsteller August Stein, auch darin noch ein
echter Journalist und ganz uneitel, hüllte sich in den Mantel der Anonymität,
der eine vielseitige Persönlichkeit deckte. Noch persönlicher wirkte er
freilich als Erzähler. Ich stehe nicht an, ihn für den besten Erzähler, der mir
in Deutschland begegnet ist, zu erklären. Das will etwas besagen, denn ich habe
Paul Lindau genossen, der mir ein wenig überschätzt scheint, und mich auch an
Hermann Bahrs Fabulierkünsten gelabt. August Stein, der ja nie Anspruch auf
poetische Erfindungsgabe machte, war sachlicher, gedrängter und mindestens
ebenso amüsant. – Die Kunst des mündlichen Erzählens von Anekdoten, Schnurren,
Menschlichkeiten bekannter Zeitgenossen, kleinen Klatschgeschichten steht bei
uns nicht sonderlich hoch im Kurs, vielleicht weil sie ohne letzte Phantasie,
ohne Grazie, ohne Charme geübt wird. Ich habe das Glück gehabt, mit zwei so
erlesenen Plauderern wie George Moore und Robert Ross befreundet zu sein, und
ihrem unerschöpflichen Reichtum an Geschichten begeistert gelauscht. Daneben
verblaßt – das muß ohne jegliche Überschätzung fremden Wesens, einfach der
Wahrheit gemäß, festgestellt werden – alles, was auf diesem Gebiete made in Germany ist. – Als ‚talker’ (wir
haben keinen völlig deckenden Begriff, denn bei Erzähler denkt man zu leicht an
den Romanschriftsteller) scheint mir August Stein unerreicht. […] Ich hörte
oft, daß er an seinem Stammtisch im Kaiserhof, wo ich ihn nie gehört habe,
Gerechte und Ungerechte mit attischem Salz bestreute. Dafür durfte ich ihm in
seinem Redaktionszimmer jahrelang unter vier Ohren lauschen. Und als wir einmal
zusammen nach Rügen fuhren, vertrieb er mir einen endlosen Regentag mit der
endlosen Fülle seiner ‚Läuschen und Rimels’. Es war ein Hochgenuß. Ich habe zu
Füßen eines Meisters gesessen.“
Gedenkblätter. XXIII: August Stein. LE, Bd. 23, Nr. 6 (15. Dezember 1920), 329-331.
Vgl. vorigen Nachruf. – „Ein homo nullius libri. Er hat, meines Wissens, niemals ein Buch
geschrieben. Wie auf ihn
gemünzt scheint das Wort: ‚He has never written a single book, so you can
imagine how much he knows.’ [Oscar Wilde, The Importance of Being Earnest]. Tatsächlich dürfte es kaum einen
Zeitgenossen gegeben haben, der mehr Menschen des öffentlichen Lebens gekannt,
der diese Menschen besser gekannt hat, der so wie er Bescheid wußte im
kribbelnden Getriebe der Politik.”
1922
Intendant v. Hülsen †. NZZ, 26. Juni 1922, Zweites Morgenblatt, Nr. 835.
Georg Graf v.
Hülsen-Haeseler, Generalintendant der Königlichen Schauspiele Berlin,
Wiesbaden, Kassel und Hannover sowie der Königlichen Hofmusik (gest. 21.06.22).
– „Da Georg v. Hülsen-Haeseler, der letzte königlich preußische
Generalintendant der Hoftheater, der jetzt kurz vor Vollendung seines
vierundsechzigsten Lebensjahres gestorben ist, stark von ‚wilhelminischer’ Aura
umgeben war, muß er es sich gefallen lassen, daß ihm vielfach die Exzesse
seines autokratischen Herrschers angekreidet werden. […] Seine Nachrufe sind im
günstigsten Fall auf den Ton gestimmt: er wollte das Beste; er konnte nicht
anders; die Hände waren ihm gebunden. Das trifft unbedingt auf die Gestaltung
des Spielplans im ehedem Kgl. Schauspielhaus zu, wo Tradition an Stagnation
grenzte und moderne Schriftsteller nur Einlaß fanden, wenn sie sozusagen
stubenrein waren oder der europäische Ruhm, den sie mit den Jahren geerntet
hatten, ihre dubiöse Vergangenheit in milderem Lichte erscheinen ließ. War
dieser Hülsen auch in vieler Hinsicht ein Schleppenträger des herrschenden
Systems, bloß Vollstrecker des Allerhöchsten Willens, so hat er doch
unbestreitbar die Berliner Oper, der seine Vorliebe gehörte, auf glorreicher
Höhe gehalten. […] Hülsens Ehrgeiz strebte gewiß nicht nicht nach neuen Zielen.
Als treuer Diener seines Herrn hat er die Kunstinstitute, deren Führung ihm
anvertraut war, zuchtvoll verwaltet. Die Sache stand ihm höher als die Mehrung
seines Privatruhms. Das war das Preußische an ihm. Beschimpfe es, wer davon
keinen Tropfen im Blute hat. Erst die Entwicklung wird erweisen, was der Kunst
auf die Dauer bekömmlicher ist: die persönliche Eitelkeit der leitenden Stellen
oder die Befolgung des englischen Wappenspruchs ‚Ich dien’.“
Clara Meyer †. NZZ,
27. Juli 1922, Erstes Abendblatt, Nr. 986.
Schauspielerin
(gest. 24.07.22). – „Ältere Herren mit grauen Zylindern und weißen Gamaschen
schwärmten für sie; die in mittleren Jahren erinnern sich einer wohlerhaltenen
Matrone; die Jugend kennt kaum ihren Namen. Es sei denn, daß sie
theatergeschichtliche Studien treibt und in den Causerien über Theater von Theodor Fontane Bescheid weiß. Dort wird keine Schauspielerin öfter genannt
als Clara Meyer, die jugendliche Heldin und Liebhaberin des Berliner Königlichen
Schauspielhauses in den 1870er und 80er Jahren.“
Ludwig Hartau †. NZZ,
7. November 1922, Zweites Morgenblatt, Nr. 1454.
Berliner
Schauspieler (gest. 31.10.22). – „[Im Theater in der Königgrätzer Straße] hat
er als Protagonist, zumal in Strindbergs und Ibsens Dramen, Unvergeßliches
geschaffen. Am unvergeßlichsten bleibt sein Offizier im Traumspiel. Wie
er da mit beseeltester Stimme, in der alle Seligkeit eines Liebenden
nachzitterte, ‚Victoria!’ rief, das wird im Ohre haften, das wird leben,
solange einer lebt, der das vernommen.“ (Vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 24.03.16, Nr. 468).
1923
Rudolf Schildkraut †. NZZ, 29. Januar 1923, Erstes Abendblatt, Nr. 132.
Schauspieler. – „Er
blieb etwas Elementares. Eine alttestamentarische Wucht strömte von ihm aus. Er
wetterte mit dem Ingrimm eines Propheten. Und in seiner Komik besaß er einen
Saft, der mitunter etwas Schmalziges hatte. […] Modern differenzierte Menschen
waren Rudolf Schildkrauts Sache nicht. Er führte alles auf die Urtriebe zurück.
Stark im Haß, stark in der Liebe – das war seines Wesens und seines Könnens
Dominante. Leider litt es den Unsteten nie lange in einem wohldisziplinierten
Lager. Er ging nach Amerika, verschrieb sich dem Jiddischen Theater, wo er
geniale Schmiereneffekte gewißt nicht verschmähte, und ward bei uns nicht mehr
gesehen. Immer auf der Suche nach neuen Rollen, hatte er doch eine Mordsangst
davor, weil ihm sein Gedächtnis manch üblen Streich spielte. Ich erinnere mich
einer Premiere, an der ich mehr als platonischen Anteil hatte, da brachte es
Schildkraut in der Aufregung fertig, entscheidende Sätze, die im Schlußakt
standen, schon im ersten Akt zu sprechen [bezieht sich entweder auf die
Aufführung der Herzogin von Padua (Oscar Wilde) oder des Heiligen
Brunnens (J.M. Synge) – s. Rubrik ‚Selbständige Veröffentlichungen’]. Er
war ein berüchtigter ‚Schwimmer’, aber der Vehemenz seiner Gestalten tat das
selten Abbruch.“ – Eine Woche später wurde der Nachruf von der Redaktion
korrigiert: „Schildkraut lebt noch. In Amerika geht er seiner
Gastspieltätigkeit nach. Die Nekrologe werden ihm mehr oder weniger Spaß
machen.“ (NZZ, 06.02.23, Nr. 168.) Vgl. unten NZZ vom
18.07.30, Nr. 1418.
Richard Alexander †. NZZ, 29. Mai 1923, Zweites Morgenblatt, Nr. 719.
Schauspieler und
von 1904 bis 1912 Direktor des Residenz-Theaters in Berlin (gest. 24.05.23). –
„Eigentlich war er nur eine Berliner Lokalberühmtheit; aber eine, die jeder
Fremde, der in die deutsche Hauptstadt kam, gesehen haben mußte, wenn er am
Stammtisch seines Abdera über das Sodom an der Spree mitreden wollte. Richard
Alexander war schon unter Lautenburg und später, als er selbst Direktor wurde,
die Seele des Residenz-Theaters, wo die gepfefferten Possen französischen
Ursprungs ihre Heimstätte hatten. Dort spielte er jahrzehntelang den
Schwerenöter in tausend Verlegenheiten. […] Vielleicht war sein Genre nicht
groß, doch er war groß in seinem Genre. […] Und wenn es auch immer dasselbe
war, was er spielte, und wenn er auch immer derselbe war – den abgedroschensten
Späßen kam der Schimmer seiner hinreißend liebenswürdigen Persönlichkeit
zustatten. […] Als der Siebzigjährige freilich vor kurzem zu einem Gastspiel
ans Residenz-Theater zurückkehrte (in einer seiner Glanzrollen: als
‚Schlafwagenkontrolleur’), fand er wohl doch nicht mehr wie früher den Anschluß
an sein Stammpublikum. Die Zeit ist mittlerweile zu Sechstagerennen und
Boxkämpfen und Nackttänzen vorgeschritten; die Gewagtheiten von damals gelten
jetzt als zahm und lahm. In harmloseren Tagen, als die Franzosen mit dem Schwank
statt mit dem Tank zu uns kamen, hat Alexander manchen Sieg für sie erstritten
und ungezählten Menschen frohe Stunden bereitet.“
Exeunt Fliegende
Blätter. NZZ, 30. August 1923, Zweites Abendblatt, Nr. 1178.
In Gedichtform
abgefaßter ‚Nachruf’ auf die illustrierte humoristische Zeitschrift
(1844-1944), deren Ende gekommen zu sein schien: „Wollt Ihr ewiglich Euch von
uns wenden, / keinen Stoff zum Lachen mehr uns spenden, / von der Zeiten Wandel
hingemäht? / Wer wird künftig unsre Kleinen lehren, / Eure harmlos-heitern
Typen ehren, / wenn Ihr zu dem finstern Orkus geht? – Doch nicht sang- und
klanglos sollt Ihr sterben, / ist verblaßt auch Euer Ruf auf Erden, / da Euch
schärfre Blätter überstrahlt. / Selbst der Enkel wird noch gerne lesen, / was
in guter alter Zeit gewesen, / gerne sehn, was damals man gemalt! – So zum
letzten Male angefahren / Kommen launiger Gestalten Scharen / In dem Kahn zu
Lethes stillem Strand. / Bei der alten Jungfer sitzt ein kesser /
Schusterjunge, und der Herr Professer / hält die Schwiegermutter an der Hand. – Aufgereiht zur danse macabre schleichen / dann vorüber all die witz’gen
Leichen, / die gar oft zum Lächeln uns gebracht. / Was uns einmal wöchentlich
erfreute, / zieht jetzt als des grimmen Todes Beute / in der Schatten Hallen.
Gute Nacht!“ Am folgenden Tag erfolgte bereits das Dementi durch die Redaktion
der NZZ: „Die Fliegenden Blätter, zu deren Ehren gestern abend an
dieser Stelle das Sterbeglöcklein poetisch geläutet wurde, sollen deutschen
Blättern zufolge nun doch weiter erscheinen.“ (NZZ vom 31.08.23,
Nr. 1180) .
Guido Herzfeld †. NZZ,
21. November 1923, Erstes Abendblatt, Nr. 1609.
Schauspieler
(gest. 16.11.23). – „So etwa wird sich die Zeitungsnotiz ausnehmen: Guido
Herzfeld, ein Berliner Schauspieler, zuletzt an der Volksbühne tätig, ist im
Alter von sechzig Jahren einem Gehirnschlag erlegen. – Es wäre grausam
ungerecht, den exzeptionellen Künstler mit einer so kargen Meldung für Zeit und
Ewigkeit abzutun. Wenn er auch nicht für alle Zeiten leben wird, weil seines Wirkens
Spur mit seiner Stimme Klang verweht ist, so hat er doch den Besten seiner Zeit
genug getan. Sie wußten, was sie an ihm hatten, und schätzten ihn
dementsprechend. Sie waren sicher, bei ihm, so oft er auftrat, reine
Menschlichkeit zu finden, und fanden sie – frei von allem Komödiantentum. Er
war bloß ein Chargenspieler, ein Episodist, aber was er anfaßte, empfing durch
ihn seelischen Widerhall. Wenn die Helden auf den Brettern brüllten, die
Protagonisten schwitzten, die Mimen rings im Kreise sich in Körperwärme
hineinarbeiteten, dann strahlte sein zurückhaltendes Wesen seelische Wärme aus.
Er brauchte nur den Mund zu öffnen, brauchte nur mit den pfiffigen Äuglein zu
zwinkern, und es war, als ob man aus dem Lande der Dekorationen in die
schmucklosen Gefilde der Natur versetzt würde. Höchste Bescheidenheit war seine
Zier. Sie wob seinen Pilgern, Bettelmönchen, seinen rührenden Volksgestalten,
aller leidenden Kreatur den Heiligenschein. Wer im Reiche der Rampen – und
nicht nur dort allein – von sich selbst nicht viel hermacht, von dem wird auch
nicht allzu viel Wesens gemacht; doch wichtiger bleibt es, wesentlich zu sein.
Die lebenden Reklamebilder mögen den vergänglichen Ruhm an sich raffen; von
Guido Herzfeld muß es immer heißen, bevor er für ewig verstummte, daß er ein
stiller Künstler war.“
1925
Gedenkblätter. XXX:
William Archer. LE, Bd. 27, Nr. 6 (März 1925), 340-342.
Schottischer
Theaterkritiker, Ibsen-Übersetzer und Autor des Stückes The Green Goddess (gest. 27.12.24). – „Theaterkritiker; Ibsen-Übersetzer; Verfasser der Grünen
Göttin – wird es genügen, ihm Nachruhm zu sichern? – Dreiundzwanzigjährig
fing er mit Theaterkritiken an. Zuerst am Londoner Figaro (längst
eingegangen). Dann über zwanzig Jahre bei der World (auch längst
verschollen). Hernach an der Tribune (wohl der besten Tageszeitung, die
es je gegeben hat; dafür hielt sie sich auch kaum länger als ein Jahr, während
Schundblätter leben, wachsen, gedeihen.) [Die Verherrlichung der Tribune ist
nicht von ungefähr: am 9. Juni 1906 hatte William Archer in dieser Zeitung
ein langes Interview mit MM über ‚The English Drama in Germany’ veröffentlicht;
und am 20. November des gleichen Jahres war in der Tribune unter
MMs eigenem Namen ein Artikel über die neu gegründeten Kammerspiele des
Deutschen Theaters erschienen: ‚A Theatre for the Elect’. (Siehe die Rubrik
‚Essays’ in dieser Bibliographie.)]. […] – Von früh auf stellte Archer in
seinen Kritiken die Sache, die er diente, höher als seine Person. […] Ihm war
es mehr darum zu tun, ein Stück zu preisen als sich selbst anzupreisen,
sachlich zu beschreiben, wie ein Werk in Szene gesetzt worden war, als sich
selbst in Szene zu setzen. Manche fanden das auf die Dauer dry (keine üble Sektmarke); doch ich erinnere mich, mit wie ehrlichem Beifall die Artikel,
die er für das Berliner Tageblatt über seine Berliner Theatereindrücke
schrieb [s. Berliner Tageblatt, 20.10.06, Nr. 535; 24.10.06,
Nr. 542; 29.10.06, Nr. 551], gerade von Bühnenleuten damals begrüßt
wurden. – […] Der mehr als Sechzigjährige kehrte zu seiner Jugendliebe zurück
und fand späte, doch nicht zu späte Erhörung. ‚Sie werden erstaunt sein, zu
vernehmen,’ schrieb er mir am 26. Juli 1921, ‚daß
ich mich zum Dramatiker entwickelt habe und, was mehr besagen will, zum
erfolgreichen. Ein Stück von mir, Die grüne Göttin, steht in Neuyork
schon mehr als zweihundertmal auf dem Spielplan und zieht noch immer […].’ Und
in seinem letzten Brief an mich vom 1. Oktober 1924 heißt es: ‚Die
grüne Göttin hat genau ein Jahr in London gedauert. Sie ist zwischen
England und Amerika mehr als zwölfhundertmal aufgeführt worden, worüber sich
nicht klagen läßt.’ – […] Es freute ihn […] besonders, als ich ihm im Mai des
vorigen Jahres erzählte, George Moore habe mir gegenüber den Wunsch geäußert,
sich die Grüne Göttin anzusehn. Prompt erhielten wir zwei Karten zum
St. James’ Theatre, doch im letzten Augenblick bekam George Moore einen so
rauhen Hals, daß er seine Augen schonen wollte. – Ein Vierteljahrhundert hab’
ich diesen William Archer gekannt, und er ist mir stets ein wahrhaft guter
Freund gewesen. Ohne das bißl Falschheit, das allweil dabei sein soll. Sooft
ich in London war, hat er mich in allen literarischen Fragen beraten […]. Er
gönnte gern andern ihren Ruhm, wenn sie seine Kreise nicht störten. Nur wo er
Ungerechtigkeit, offenkundiges Unrecht witterte, ereiferte er sich mannhaft. –
Das hab’ ich selbst erlebt, als ich ihm von meinem Zerwürfnis mit Bernard Shaw
Mitteilung machte. Archer wollte es nicht glauben, daß Shaw im Londoner Athenaeum [04.04.08, S. 418] – wohlweislich ohne Namen zu nennen – die Beschuldigung
ausgesprochen hatte, die kritischen Angriffe gegen seinen deutschen
Verschandeler gingen von Leuten aus, die sich bei ihm erfolglos um die
Übersetzungsrechte seiner Dramen beworben hätten; wollte diese Verdächtigung so
wenig glauben, daß er Shaw deswegen zur Rede stellte. Voll Trauer im Herzen
berichtete er mir, das einzige, was Shaw auf seine Vorhaltungen erwidert habe,
sei gewesen, er lasse sich von keinem in die Suppe spucken. ‚And there was an
end to it.’ Uns aber wollte es bedünken, daß es leichter sei, einer ganzen Welt
Ethik zu predigen, als diese Ethik für die eigene Person zu befolgen. – … Im
Krieg hatte William Archer die Contenance verloren, war über Nacht ein
Deutschenfresser geworden. Wie konnte dieser geruhige Mensch, der es anders
wußte, sich so vergessen? Später wurde mir alles klar, als ich erfuhr, daß sein
einziger Sohn gefallen war. Solche Schicksalsschläge können auch dem Besten die
Selbstbeherrschung rauben. – Umso größer war meine Freude, als ich im Juni 1921
folgendes Schreiben von ihm erhielt: ‚Ich weiß nicht, wie Sie über die
Ereignisse seit 1914 denken, aber ich für meinen Teil sehe keinen Grund, warum
wir nicht die Vergangenheit vergangen sein lassen und unsern alten Briefwechsel
wiederaufnehmen sollen.’ Ich antwortete mit der gebotenen Zurückhaltung, sah
aber für meinen Teil keinen Grund, die mir hingereichte Hand nicht zu
ergreifen. – Im Sommer des vorigen Jahrs war ich öfters mit ihm in London
zusammen. […] Lud er früher in den National Liberal Club ein, so trafen wir uns
jetzt im Reform Club.“
1930
Rudolf Schildkraut †. NZZ, 18. Juli 1930, Mittagausgabe, Nr. 1418.
Schauspieler (gest.
15.07.30). Vgl. oben den verfrühten Nachruf in der NZZ vom 29.01.23,
Nr. 132. – „Vor sieben Jahren ist er schon einmal totgesagt worden; er
hatte so das zweifelhafte Vergnügen, seine Nekrologe zu lesen (auch den in der NZZ vom 29. Febr. [sic] 1923). Diesmal will es indes scheinen, als könne er
sich nicht wieder eines Bessern besinnen. Er hat in den verflossenen sieben
Jahren mit der deutschen Bühne nichts mehr zu schaffen gehabt. Das Jiddische
Theater in New York und der amerikanische Film hatten ihn mit Haut und Haaren
verschlungen. Er spielte drüben für Glaubensgenossen, aber sehr primitive
Glaubensgenossen, denen die Träne rinnt, wenn die Gefühlskiste mit erprobten
Effekten aufgeklappt wird. Auch im Film beschränkte er sich auf die Darstellung
hebräischer Väter mit gebrochenem oder brechendem Herzen. Der Heldenvater war
also bei ihm ein Märtyrervater, der von den eigenen Kindern oder von bösen
Menschen bloß Undank erntet. König Lear (Schildkrauts zweite Paraderolle) für
die Unterklassen. Über das alte Testament kam er nicht hinaus: da war er
freilich von elementarer Wucht. Die Welt blieb mittlerweile nicht stehen, aber
sie wird dem urwüchsigen Künstler, in dem sich ein Stück vom
Schmierenkomödianten niemals unterdrücken ließ, seinen mit der Kraft eines
Naturereignisses wirkenden Shylock nicht vergessen.“
Hans Peppler †. NZZ,
23. Dezember 1930, Morgenausgabe, Nr. 2543.
Schauspieler (gest.
20.12.30). – „Erst im Anfang der vierziger Jahre stehend, ist der Schauspieler
Hans Peppler einer Herzschwäche erlegen, die sich im Gefolge einer
Blinddarmoperation einstellte. Mit Beginn der vorigen Spielzeit kam er von Wien
an die Berliner Volksbühne. Gleich bei seinem ersten Auftreten als Herr Gabor
in Frühlings Erwachen überzeugte er von seiner starken Persönlichkeit,
und obwohl er in dieser Rolle gegen Albert Steinrücks Schatten zu kämpfen
hatte, stand er durchaus seinen Mann [s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 17.10.29, Nr. 1999]. Spätere Leistungen bestätigten und vertieften
diesen Eindruck. Seitdem man Peppler in den Unüberwindlichen von Karl
Kraus als österreichischen Polizeipräsidenten (in Schobers Maske) gesehen hatte,
wußte man, daß er ein außerordentlicher Charakteristiker war, ungewöhnlich auch
in der Wandelbarkeit seines Wesens [s. NZZ vom 23.10.29, Nr. 2041].
Sein cäsarenwahnsinniger Julius Cäsar [s. NZZ vom 05.06.30,
Nr. 1098], sein Zola in der Affäre Dreyfus [s. NZZ vom
03.12.29, Nr.2352], sein
Fabrikant Dreißiger in den Webern [s. NZZ vom 29.09.30,
Nr. 1875], zuletzt noch der fanatische Puritaner in Georg Kaisers Mississippi
[Premiere 14.11.30], legten Zeugnis dafür ab, daß bei diesem Künstler
Intellekt und Phantasie glücklich vereint waren. Das Schicksal hat es ihm noch
vergönnt, in die erste Reihe zu gelangen; er hätte sich gewiß bei längerer
Dauer ‚höchst königlich bewährt’. Nicht nur die Volksbühne hat ihren größten
Darsteller verloren, auch in der an Persönlichkeiten reichen Schauspielerstadt
Berlin wird man Hans Peppler noch lange schmerzlich vermissen.“
1931
Kleine Chronik. NZZ,
3. März 1931, Abendausgabe, Nr. 393.
Berthold Held,
Leiter der Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin (gest. 27.02.31).
– „Er [Held] kannte Max Reinhardt von seinen Bühnenanfängen her, machte seinen
Aufstieg in Berlin mit und hielt ihm in allen Fährlichkeiten die Treue. Als
Leiter der dem Deutschen Theater angegliederten Schauspielschule, die vor
kurzem ihr 25jähriges Bestehen feiern konnte, hatte Held die Genugtuung, eine
größere Zahl überaus begabter Eleven heranzubilden, die rasch in die Reihen der
Prominenten aufrückten. Persönlich hielt er sich immer bescheiden im
Hintergrund.“
Kleine Chronik. NZZ,
11. März 1931, Abendausgabe, Nr. 453.
Lupu Pick,
Schauspieler und Filmregisseur (gest. 07.03.31). – „Lupu Pick, der bekannte
Berliner Schauspieler und Filmregisseur, ist unter etwas mysteriösen Umständen,
die als Vergiftungserscheinung gedeutet wurden, plötzlich gestorben. Er gehörte
zu den stillen Chargendarstellern, die von sich wenig hermachen, dafür ganz in
ihren Rollen aufgehn. Aus der Verkörperung seiner alten Männer mit
runzelreichem Gesicht, lustig oder listig zusammengekniffenen Äuglein, rostiger
Stimme, sprach viel menschliche Güte. Zuletzt sah man ihn vor Jahresfrist auf
der Bühne des Lessing-Theaters in Pirandellos katastrophaler Stegreifkomödie
[s. MMs Theaterkritik in der NZZ vom 05.06.30, Nr. 1098]. Er hatte
sich schon vor längerer Zeit von der Sprechbühne fast ganz zurückgezogen und
war zum Film übergegangen. Dort mied er die blumigen Auen an Neckar und Donau
und suchte Neuland zu gewinnen. Seinen Filminszenierungen wird, wenn ihnen auch
kein breiter Publikumserfolg beschieden war, hohes künstlerisches Gestaltungsvermögen
nachgerühmt.“
Berliner Theater. NZZ,
22. März 1931, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 529.
Adolf Klein,
Schauspieler (gest. 11.03.31). – „Adolf Klein, der Nestor der deutschen
Schauspieler, ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Das heutige Geschlecht
kennt wohl kaum noch seinen Namen, aber in der Theatergeschichte wird er als
Ur-Trast in Sudermanns Ehre fortleben. Theodor Fontane rühmt ihm in
seinen Causerien über Theater schöne Natürlichkeit, bemerkenswert gute
Schulung nach. ‚Er gehört einer Schule an, die alle Effekte vermeidet,
vielleicht mit Ausnahme des Effekts der Effektlosigkeit.’ Klein hat am Kgl.
Schauspielhaus in Berlin lange die klassischen Rollen in seiner unpathetischen
Art dargestellt und wirkte dann unter Blumenthal im Lessing-Theater, wohin er
für das moderne Konversationsstück seine gute Haltung und seine deutliche
Sprechweise mitbrachte. Er gehörte noch zu jenen altmodischen Künstlern, die
des Glaubens lebten, das, was auf der Bühne gesprochen werde, müsse von den
Zuschauern verstanden werden.“
Kleines
Gedenkblatt. In memoriam Alan C. NZZ, 21. Juli 1931, Morgenausgabe, Nr.
1395.
Ein junger, nicht
näher identifizierter australischer Journalist, der sich 1930 das Leben nahm,
als er für seinen Roman keinen Verleger fand. – „Vor vier Jahren, an einem
verregneten Sonntag in Berlin, lernte ich auf der Straße durch einen
befreundeten Engländer, der sich inzwischen als Regie-Assistent an einer
deutschen Opernbühne versucht hat, einen jungen Australier (oder war er
Neuseeländer?) kennen, den die Liebenswürdigkeit seines Wesens sogleich
empfahl. Der prachtvolle Kopf mit den straffen Zügen und dem franken Blick
sowie die athletische Gestalt ließen an einen englischen Flieger denken. Er
mochte Mitte, höchstens Ende der Zwanziger sein, von Beruf Korrespondent der – also sagen wir: Morning Gazette in London. Ohne alle Kenntnis der
deutschen Sprache war er nach Berlin gekommen, um sich einige neuere
Theaterstücke anzusehen. Da ich für eine Nachtvorstellung, die am folgenden
Abend in einem Revue-Theater des Kurfürstendamms sein sollte, eine Karte übrig
hatte, lud ich den australischen Kollegen dazu ein. […] ‚Es scheint fast
unglaublich’ – schrieb er mir nachher in einem Dankbrief –‚ ‚daß ich jemals mit
Ihnen vor dieser heitern Revue gesessen und um 2 Uhr früh Heringssalat und
Würstchen verzehrt habe. […] Jetzt, da ich mich wohl und glücklich fühle’ –
heißt es in dem Brief weiter –, ‚hoffe ich, mein Buch zu beschleunigen. Wenn
ich tüchtig daran arbeite, sollte ich imstande sein, die erste Fassung innerhalb
der nächsten paar Monate fertigzustellen. Aber ich muß es in den Zwischenpausen
tun, wenn ich nicht meinen Lebensunterhalt zu verdienen habe; und es gibt so
viele Schwierigkeiten.’ Das Buch, von dem mir Alan C. (so hieß der junge Mann)
schon in Berlin gesprochen hatte, war ein Roman. Der sollte ihn aus der
journalistischen Fron befreien und ihn als Schriftsteller legitimieren. –
Wenige Wochen später sahen wir uns in London wieder. Wir aßen mehrmals in einem
ausgezeichneten kleinen italienischen Restaurant zusammen, und eines Abends lud
ich Alan C. zu einem Empfang ein, weil ich ihn mit einigen namhaften jüngern
Schriftstellern bekannt machen wollte. Dort lernte er auch meinen Freund Osbert
Sitwell kennen. – Im Januar des nächsten Jahres erhielt ich noch einen Brief
von Alan C. ‚Es wird schon wärmer, und die Tage scheinen sich, sehr zu meinem
Entzücken, in die Länge zu dehnen. […] [M]it den länger werdenden Tagen kommen
meine Lebensgeister wieder zum Vorschein. Ich habe sogar wieder ein eigenes
Werk begonnen, nach zwei Monaten völliger Stockung.’ – Warum diese Briefe –
leider sind es nur zwei – hier zitiert werden? Weil sie ungewöhnlich gut
geschrieben sind. Das wird nicht leichthin gesagt, sondern ist die Überzeugung
eines Mannes, der, gering gerechnet, tausend Briefe von englischen
Schriftstellern empfangen hat. Manch einer von ihnen, der es mittlerweile zu
Weltruhm gebracht hat, könnte froh sein, wenn seine Privatbriefe sich auf
ähnlicher Höhe hielten. Doch große Schriftsteller sind ja, wie wir wissen, keineswegs
immer gute Briefschreiber […]. – Danach hab ich nichts mehr von Alan C. gehört.
Auch nichts mehr von mir hören lassen. Ich hatte ihm gesagt, wenn er seinen
Roman fertig und Schwierigkeiten habe, ihn unterzubringen, solle er sich
vertrauensvoll an mich wenden. Gibt es für ältere Literaten etwas
Selbstverständlicheres, als jüngern, aufstrebenden Kräften den Weg zu ebnen,
ihnen (mit einem Ausdruck der englischen Umgangssprache) to lend a hand,
d.h. in den Rock hineinzuhelfen? – […] Als ich im Juni dieses Jahres in London
war, ging ich eines Morgens durch die Fleet Street, wo die Weltblätter auf
engstem Raum zusammengedrängt sind. Plötzlich las ich ein Schild Morning
Gazette, und ebenso plötzlich stand Alan C. vor meinem geistigen Auge.
Morgen früh – heute hatte ich eine wichtige Verabredung - werde ich hinaufgehen und mir seine Adresse
geben lassen. […] – Abends war ich bei Osbert Sitwell zu Gast. Ganz kleiner
Kreis, ganz zwanglos. Nach Tisch gingen wir hinauf in den mit ergötzlichen
Kuriositäten vollgepackten Drawing-Room, wo der Hausherr seine sprühenden
Tischgespräche fortzusetzen liebt. Er erzählte humorvoll von seinen Reisen, bis
er, an mich gewandt, sich mitten im Satz unterbrach: ‚Übrigens hab ich Ihnen
geschrieben, daß ich voriges Jahr in Athen, als ich auf der Akropolis stand,
Alan C. traf, den jungen Australier – Sie erinnern sich doch? Er trat an mich
heran und erzählte mir, er habe einen Roman geschrieben, der von sämtlichen
Verlegern in London abgelehnt worden sei. Wenige Tage später las ich in einer
Zeitung, Alan C. habe eine zu starke Dosis Veronal genommen und sei daran
gestorben.’ – Ich hatte das Gefühl, als stände mein Herz still. Ebenso sehr wie
die Todesnachricht erschütterte mich die Tatsache, daß vor ein paar Stunden
mein Denken sich so stark mit dem Toten beschäftigt hatte. […] – Armer Alan!
Was mag dich, der ein Liebling der Götter scheinen konnte, vor der Zeit in den
Tod getrieben haben? […] Was mag dich, Alan, in den freiwilligen Tod getrieben
haben? Denn – nicht wahr? – eine zu starke Dosis Veronal ist ja nicht auf ein
Versehen, sondern auf Absicht zurückzuführen. War es gekränkter literarischer
Ehrgeiz, der dich jenen verhängnisvollen Schritt tun ließ? Warst du davon
durchdrungen, mit diesem Roman dein Bestes gegeben zu haben, und konntest du
den Schmerz darüber nicht verwinden, daß dir von allen Seiten zurückscholl,
dein Bestes sei nicht gut genug zur Veröffentlichung? Dann laß dir von einem,
der auf diesem Gebiet so manche Erfahrung gesammelt hat, über das Grab hinaus
zurufen: Auch Verleger irren. Sie geben mindestens so viele Fehlurteile ab wie
richtige. Und noch die richtigen werden bisweilen erst durch die Gunst der
Begleitumstände sanktioniert. Doch mit ihren Fehlurteilen ließe sich leicht ein
Buch füllen. – Darum die Flinte ins Korn werfen, das war nicht wohlgetan, Alan.
Wenn du aber an dir selbst verzweifeltest – das war erst recht nicht wohlgetan.
Freilich ist dagegen noch kein Kraut gewachsen. – Wie herrlich wär’ es, wenn
mir jetzt der Zufall das Romanmanuskript Alan C.’s auf den Schreibtisch wehte,
so daß ich den ablehnenden Spruch der teuflischen englischen Verleger
kontrollieren könnte. Solche Zufälle gibt es nicht? George Moore hat einmal
gesagt: Wenn man ein vollendetes lyrisches Gedicht in der Wüste Sahara
niederlegte, werde der Wind es gewiß in ein Redaktionszimmer tragen; so fest
ist er davon überzeugt, daß künstlerische Werke nicht verloren gehen. Ich bin
anderer Meinung; doch ich harre des Zephirs, der dieses unselige Manuskript auf
seine sanften Schwingen nimmt und an freundlicher Schwelle fallen läßt.“
Heinrich Grünfeld †. NZZ, 30. August 1931, Zweite Sonntagausgabe, Nr. 1640.
Cellist (gest.
26.08.31). – „Am 13. November 1928 konnte Heinrich Grünfeld, der populäre
Cellist, von dankbarer Freundesschar umgeben, in der Berliner Singakademie sein
fünfzigjähriges Künstlerjubiläum feiern. [Vgl. MMs Hommage in der NZZ vom 13.11.28, Nr. 2082.] Er hat sich bald danach, infolge fortschreitender
Arterienverkalkung, aus der Öffentlichkeit zurückgezogen und nur noch
gelegentlich bei Trauerfeiern die Kunst seines Instrumentes hören lassen.
Langes Siechtum blieb ihm zum Glück erspart. Fast bis zuletzt bewahrte er sich
seinen schlagfertigen Humor, der aus reichem Anekdotenschatz schöpfte. Man
möchte sich am liebsten vorstellen, daß dieser heitere Mensch mit einem
Witzwort auf den Lippen in die Ewigkeit einging, so wie er einen todkranken
Freund, der sich die Trauermusik bei ihm bestellte, lächelnd fragte: ‚Was
wollen Sie hören?’ Gleich beliebt am früheren Kaiserhofe wie in
weitesten Schichten des Bürgertums, verstand er es, sich überall Freunde zu
gewinnen, und sein Witz war nicht von der Art, ihm Feinde zu schaffen.
Unzählige Bonmots segelten unter seiner Flagge, selbst wenn sie nicht von ihm
stammten – der sprechendste Beweis für seine Beliebtheit. Mit Stolz durfte der
gütige, stets hilfsbereite Mann von sich sagen, daß er nie einen Feind gehabt
habe. Für ihn gilt die Umkehrung des Sprichworts: viel Freund’, viel Ehr’.“
Künstlers
Erdenwallen. NZZ, 28. Oktober 1931, Morgenausgabe, Nr. 2039.
Der Maler Lesser
Ury [ohne Namensnennung!] (gest. 18.10.31). – „Vor einigen Tagen ist in Berlin
ein Maler gestorben, der zwar keine internationale Marktgeltung besaß, aber als
Gründer des deutschen Impressionismus sich hoher künstlerischer Wertschätzung
erfreute. Noch heute werden für kleine Straßenbilder von ihm mehrere hundert
Mark von den Händlern verlangt. Man wußte, daß dieser Künstler ein
weltabgeschiedenes, fast eremitenhaftes Dasein in seinem Atelier am
Nollendorfplatz führte. Jetzt, bei seinem Tode, fand man ganze 37 Mark
vor. Kein Bankguthaben, kein Sparkassenbuch – 37 Mark in bar und
unverkaufte Bilder an den Wänden: das ist alles, was er hinterließ. Und er
mußte nahezu siebzig Jahre alt werden, um es auf solchen Wohlstand zu bringen.
Auch ein Zeichen dieser aus den Fugen geratenen Zeit.“
1932
Hans Waßmann †. NZZ,
7. April 1932, Abendausgabe, Nr. 644.
Berliner
Schauspieler (gest. 05.04.32). – „Einer der populärsten Schauspieler Berlins,
der Komiker Hans Waßmann, ist nach kurzem Krankenlager im sechzigsten
Lebensjahr gestorben. Sein Aufstieg fiel mit dem Reinhardts zusammen. Den
Erfolg, der für sein Leben entscheidend wurde, hatte er mit der Darstellung des
Barons in Gorkis Nachtasyl [vgl. MMs Theaterkritik in der NZZ vom
04.02.03, Nr. 35]. Doch erst die Verkörperung Shakespearescher Rüpel trug
ihm die Kunst der breiten Massen ein. Zettel, Bleichenwang, der Prinz von
Arragon, Holzapfel in Viel Lärm um Nichts, Peter in Romeo und Julia,
der junge Schäfer im Wintermärchen – das waren einige der Gestalten,
denen Waßmann eine köstliche Blödigkeit mitgab. Er war eigentlich immer
derselbe, aber wie er diese Dümmlinge mit echter Clownerie, nicht nur mit
versoffener Nase ausstattete, das war bezwingend. Er brauchte nur in
urdrolliger Maske auf der Bühne zu erscheinen, und der Kontakt mit dem Publikum
war hergestellt. Neben seiner unleugbaren vis comica verdankte er das
der Besonderheit seiner abgehackten, meckernden Sprechweise. Lange Zeit war er
so beliebt, daß sie in jedem Kabarett imitiert wurde, und die Leute wieherten
schon, wenn sie nur die Nachahmung hörten. Er vermochte sich nicht auf dieser
Höhe zu halten, sank mit zunehmenden Jahren in die zweite Reihe zurück. Seine
letzte Rolle war der eingelegte Berliner Droschkenkutscher in der Reinhardtschen
Paraphrase von Hoffmanns Erzählungen [Premiere 27.11.31]. Dieser
Künstler, der vielen Menschen viele frohe Stunden bereitete, machte zuletzt
einen überaus unfrohen Eindruck. Auch das gehört zum Wesen des Komikers, der
meist ein Melancholiker oder Hypochonder ist.“
Kleine Chronik. NZZ,
5. Juli 1932, Abendausgabe, Nr. 1264.
Robert
Forster-Larrinaga: Autor, Schauspieler und Regisseur (gest. 02.07.32). –
„Forster Larrinaga (den Vornamen hat der Doppelname mit der Zeit verschluckt)
ist, noch nicht fünfzigjährig, einem Lungenleiden erlegen. Der kleine,
gepflegte Mann sah aus wie der Letzte der … – also einer langen Ahnenreihe
überzüchteter Sproß. Er kam von der Musik her, bevor er in den Bühnenkünsten
dilettierte. Mit der mondänen Komödie Der Floh im Panzerhaus schuf er
sich einen Namen als Autor und das Sprungbrett von München nach Berlin. Als
Schauspieler hatte er kaum eine eigene Note; der müde, ironische Ton seines
Spiels entsprach seiner Erscheinung und seiner Wesensart. Als Regisseur
vermochte er seine Persönlichkeit stärker zur Geltung zu bringen. Er hatte das
Sensorium für den Geist einer Komödie und wußte ihn den von ihm sich willig
leiten lassenden Schauspielern mitzuteilen. Wenn Geschmack in der Kunst, wie
die Knoten es wahrhaben wollen, eine Sünde ist, hat sich Forster Larrinaga
ihrer schuldig gemacht. Bessere Europäer werden es ihm danken.“
Martin Zickel †. NZZ,
25. Juli 1932, Mittagausgabe, Nr. 1393.
Regisseur und
Theaterdirektor (gest. 14.07.32). – „Schon als Student im germanischen Seminar
bei Erich Schmidt regte er die Flügel, noch ehe er sich mit einer Dissertation
über die szenarischen Bemerkungen im Zeitalter Gottscheds und Lessings den
Doktorgrad erworben hatte. Was kein Theaterdirektor in Berlin um die
Jahrhundertwende unternahm, das wagte der junge Dr. Zickel. Wie sich die
fortschrittlichen Maler von ihren stehengebliebenen Kollegen durch Gründung der
Sezession abgezweigt hatten, wollte Zickel dem stagnierenden Bühnenwesen durch
Eröffnung der Sezessionsbühne (am Alexanderplatz) frisches Blut zuführen. Als
erster hat er dort Maeterlinck, Schönherr, Knut Hamsun gespielt. Es bleibt ein
nicht wegzuleugnendes Verdienst. Aber der Verdienst hielt mit dem literarischen
Enthusiasmus nicht lange gleichen Schritt. Aus dem Vorkämpfer für esoterische Werke
wurde bald ein Verschleißer gangbarer Publikumsware, als er das Lustspielhaus
(in der südlichen Friedrichstraße) übernahm. Ein übler Prozeß bereitete seiner
Direktionstätigkeit auf Jahre hinaus ein Ende. Als Zickel die Konzession
wiederbekam, machte er der Menge noch in verstärktem Maße Konzessionen. Seine
Hausgötter wurden Arnold und Bach; alljährlich, um die Weihnachtszeit herum,
‚stieg’ ihr neues Fabrikat, und der beliebte Lokalkomiker Guido Thielscher
wurde die große Zugkraft des Hauses. Zickel, der alle ups and downs des
Betriebs am eigenen Leib erfuhr, hat dann sein Heil noch an verschiedenen
andern Theatern versucht. Mit mehr oder minder Glück. Er blieb ein
illusionsloser, kühler Rechner. Auf seine ruhmreichen Anfänge blickte er fast
wie auf eine Jugendsünde zurück. Stellte man ihn wegen dieses
Gesinnungsumschwungs zur Rede, so zuckte er die Achseln und erwiderte, seinem
Ehrgeiz genüge es, wenn er am Ersten jedes Monats sämtlichen Angestellten die
Gage auszahlen könne. Auch das ist ein Standpunkt, so wenig er mit Kunst zu tun
hat, und in der heutigen Zeit läßt sich nicht einmal viel dagegen sagen.
Zuletzt, als es mit dem Theaterspielen in Berlin immer mehr bergab ging, wurde
Zickel Produktionschef einer Lichtspielgesellschaft. Erst 56jährig, ist er einem
Nierenleiden erlegen.“
Berliner Notizen. NZZ,
30. August 1932, Morgenausgabe, Nr. 1595.
Marcellus Schiffer,
Chansontexter und Librettist (Selbstmord 24.08.32); Ida Hiedler, Sängerin
(gest. 13.08.32). – „Marcellus Schiffer, der, erst vierzigjährig, durch die
Überdosis eines Schlafmittels sein Leben beendete (war’s Unvorsichtigkeit,
war’s Absicht: ganz geklärt ist der Fall nicht) – Marcellus Schiffer darf das
Verdienst für sich in Anspruch nehmen, daß er die hirnlose Bein-Revue durch die
gar nicht geistlose Klein Revue ersetzen wollte. Das ist ihm einmal restlos
geglückt: in der Fleißigen Leserin. Auch Es liegt in der Luft war
noch ein Treffer. In andern Werkchen dieser Gattung riß der rote Handlungsfaden
zu rasch und zerfetzte in Kabarettnummern. Schiffer schrieb auch für Hindemith
das Textbuch der lustigen Oper Neues vom Tage, der, infolge der
Divergenz der beiden Künstler, ein breiter Erfolg versagt blieb [vgl. MMs
Besprechung in der NZZ vom 12.06.29, Nr. 1134]. Im Gegensatz zu den
ordinären ‚Schlagerdichtern’ verwandte Schiffer viel Sorgfalt auf die Sprache.
In einem Hemdsärmel Milieu hielt er sozusagen auf gut gebügelten Rock. – Die
Kammersängerin Ida Hiedler ist in Berlin gestorben. Grund genug für die
Zeitungen, ihr ein halbes Dutzend Zeilen zu widmen. Und doch war sie einmal die
Elsa, die Elisabeth, die Agathe des Kgl. Opernhauses. Nach ihrem
Rücktritt von der Bühne wurde sie Gesanglehrerin. Aber da ihre vornehme
Künstlernatur im stillen wirkte und es nicht für nötig hielt, sich durch eine
tägliche Reklamenotiz bei den lieben Zeitgenossen in Erinnerung zu bringen, ist
sie jetzt sang- und klanglos von der Weltbühne abgetreten. Sic transit …“
Theaternotizen. NZZ,
14. Oktober 1932, Mittagausgabe, Nr. 1901.
Arthur Kahane,
Dramaturg des Deutschen Theaters Berlin und Schriftsteller (gest. 07.10.32). –
„Arthur Kahane […] konnte noch im Mai seinen sechzigsten Geburtstag begehen,
wurde dann von den neuen Herren des Deutschen Theaters, auf die Verfügung des
früheren Herrn hin, übernommen, aber seine Liebe gehörte sicher mehr der Person
als dem Hause. Wie der ihm im Tode vorausgegangene Felix Hollaender war Kahane
von jeher ein fanatischer Reinhardt-Enthusiast. In den letzten Jahren seines
Lebens ist er stärker als Schriftsteller hervorgetreten. Er fand seinen Stoff
hauptsächlich im Reiche der Rampen, umrankte ihn reizvoll mit persönlichen
Erinnerungen und hielt auf gepflegten, ja geschliffenen Stil. Die Urbanität
seines Wesens fand hier ihren Widerhall. Zuletzt feierte Kahane als
Historiograph die Schauspielerdynastie Thimig. Ein umfangreiches Werk von ihm
war für die Geschichte des Deutschen Theaters unter Max Reinhardt geplant. Auch
wenn sie unvollendet geblieben sein sollte, wird Arthur Kahanes Name stets mit
dieser glanzvollen Ära verknüpft sein.“